Lieber „Kemie“ statt Keime? – Begasungsmittel Ethylenoxid in Sesam

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Begasungsmittel Ethylenoxid in Sesam

Ellen Scherbaum, Dr. Michelangelo Anastassiades

Im Herbst 2020 wurden in Belgien hohe Gehalte von Ethylenoxid in Sesamsaaten aus Indien festgestellt und über das europäische Schnellwarnsystem RASFF kommuniziert. In der Zwischenzeit sind zahlreiche Fälle dazugekommen, allein im November (Stand 30.11.2020) taucht das Wort „Ethylenoxid“ dort 192 Mal auf.

Erste Untersuchungen des CVUA Stuttgart zeigen, dass – zumindest bei konventionell erzeugter Ware – Überschreitungen der Höchstgehalte auch in Baden-Württemberg vorkommen. Doch wie so oft, sind die Details wichtig: Ethylenoxid ist kanzerogen und mutagen, aber was ist mit dem Abbauprodukt 2-Chlorethanol, das in den Proben nachgewiesen wird?

Was ist Ethylenoxid?

Ethylenoxid ist ein farbloses, hochentzündliches Gas mit süßlichem Geruch. Hauptsächlich wird es als Zwischenprodukt zur Synthese anderer Chemikalien verwendet. Zu einem kleinen Bruchteil (0,05 % der Weltproduktion) wird es auch direkt zur Begasung und Desinfektion von medizinischem Gerät oder zur Bekämpfung von Pilzen und Bakterien in Lebensmitteln wie Gewürzen, Nüssen und Ölsaaten eingesetzt. Bei Sesam sollen so eventuell vorhandene Darmbakterien (z. B. Salmonellen) abgetötet werden, die dort häufig nachgewiesen werden. Aus diesem Grund besteht schon seit einiger Zeit eine Vorführpflicht für Sesamsamen aus Indien bei der Einfuhr in die EU und es müssen 20 % der Sendungen mikrobiologisch auf Salmonellen untersucht werden [1].

Wie ist die Verwendung von Ethylenoxid geregelt?

In Deutschland ist der Einsatz von Ethylenoxid aus toxikologischen Gründen bereits seit 1981 nicht mehr zulässig. Seit 1991 ist es als Pflanzenschutzmittel in der EU vollständig verboten, da es als kanzerogen und mutagen eingestuft wurde. Im Jahr 2008 wurde die jetzt gültige Rückstandsdefinition der Summe aus Ethylenoxid und 2-Chlorethanol, ausgedrückt als Ethylenoxid, festgesetzt [2]. Für Sesam und andere Ölsaaten ist der Höchstgehalt seit 2015 auf 0,05 mg/kg festgesetzt [3].

Die EU hat kurzfristig mit der Durchführungsverordnung (EU) 2020/1540 vom 22. Oktober 2020 Pestizidrückstände als Gefahr bei Sesamsamen aus Indien in Anhang II der Durchführungsverordnung (EU) 2019/1793 aufgenommen. Seit 26. Oktober 2020 müssen zusätzlich 50 % der Sendungen bei der Einfuhr in die EU auf Rückstände von Ethylenoxid untersucht werden [4].

In Drittländern, wie z. B. Indien, aber auch USA und Kanada, ist die Verwendung von Ethylenoxid dagegen immer noch zulässig. Hier gilt also „lieber Chemie als Keime“. In Kanada wurden Ende 2019 für Ethylenoxid in Sesam ein Höchstgehalt von 7 mg/kg und für 2-Chlorethanol ein Höchstgehalt von 940 mg/kg (!) vorgeschlagen und am 10.01.2020 festgelegt [5,6 ].

Infokasten

Schnellwarnsystem für Lebensmittel und Futtermittel (Rapid Alert System for Food and Feed, RASFF)

Das Europäische Schnellwarnsystem für Lebensmittel und Futtermittel (RASFF) ist ein Informationsaustauschsystem der Europäischen Kommission, das zeitnahes Handeln von Behörden ermöglicht, wenn von Lebensmitteln oder Futtermitteln Risiken für die menschliche Gesundheit ausgehen. In Deutschland ist das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) die zuständige Kontaktstelle und veröffentlicht die tägliche Übersicht für interessierte Verbraucher und Verbände auf der Internetseite des BVL. Unterschieden wird zwischen Warnmeldungen, Informationsmeldungen, Grenzzurückweisungen und Nachrichten.

Der folgende Link weist auf die November-Tabelle.

Stand 30. November 2020

 

Wie wird Ethylenoxid in Lebensmitteln bestimmt?

Ethylenoxid ist eine sehr flüchtige und sehr reaktive Verbindung. In behandelten Lebensmitteln liegt es daher nur noch in geringer Menge als Ethylenoxid vor. Das Hauptabbauprodukt in Lebensmitteln ist 2-Chlorethanol. Der Gesetzgeber hat deshalb einen sogenannten Summenhöchstgehalt für Ethylenoxid und 2-Chlorethanol, berechnet als Ethylenoxid, festgesetzt. Für die Überprüfung der Einhaltung des Höchstgehaltes ist es daher nicht erforderlich zwischen den beiden Substanzen zu unterscheiden und eine gängige offizielle deutsche Analysenmethode wandelt vorhandenes 2-Chlorethanol in Ethylenoxid um und bestimmt die Summe der beiden Substanzen nach einer weiteren Umwandlung zu 2-Iodoethanol und berechnet daraus den Ethylenoxidgehalt [6]. Es handelt sich um ein aufwändiges spezielles Verfahren, das aus Kostengründen in der Routine der Lebensmittelüberwachung nur in Einzelfällen Anwendung finden kann.

 

Gibt es Unterschiede in der Toxizität von Ethylenoxid und 2-Chlorethanol?

Wie bereits ausgeführt, wurde Ethylenoxid als Kanzerogen der Kategorie 1B und als Mutagen der Kategorie 1B eingestuft (ECHA Klassifizierung [7]), so dass Lebensmittel mit bestimmbaren Rückständen an Ethylenoxid als gesundheitlich unsicher einzustufen sind.

Für 2-Chlorethanol, das Abbauprodukt von Ethylenoxid, ist die Datenlage widersprüchlich und teilweise unvollständig. Zu den kanzerogenen Eigenschaften von 2-Chlorethanol kann derzeit keine sichere Aussage getroffen werden. Für eine gentoxische Aktivität gibt es zahlreiche Hinweise, die Existenz eines möglichen Schwellenwertes und die In-vivo-Relevanz ist jedoch nicht abschließend geklärt. Es gibt derzeit keine Hinweise dafür, dass 2-Chlorethanol eine höhere Toxizität als Ethylenoxid aufweist. Die Risikobewertung für 2-Chlorethanol sollte daher vorsorglich wie für Ethylenoxid erfolgen, so das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in seiner aktuellen Stellungnahme vom 20.11.2020 [8]. Somit sind Lebensmittel auch dann als gesundheitlich unsicher einzustufen, wenn der ermittelte Ethylenoxid-Gehalt ausschließlich auf die Bestimmung von 2-Chlorethanol zurückzuführen ist.

 

Entwicklung einer schnellen Analysenmethode

Das CVUA Stuttgart hat in den letzten Wochen ein Analysenverfahren entwickelt, bei dem Ethylenoxid und 2-Chlorethanol direkt nebeneinander nachgewiesen und bestimmt werden können. Es ist gelungen, beide Substanzen in bestehende, weit verbreitete Multimethoden (QuEChERS, QuOil [9]) zu integrieren. Dadurch wird es zukünftig möglich sein, auch routinemäßig auf Ethylenoxid und sein Abbauprodukt zu untersuchen.

 

Sonderuntersuchungsprogramm „Sesam“, was war das Ergebnis?

In einem kurzfristig veranlassten Sonderuntersuchungsprogramm hat das CVUA Stuttgart im November 2020 insgesamt 22 Proben Sesam auf Ethylenoxid und 2-Chlorethanol analysiert. Die Proben haben die Lebensmittelüberwachungsbehörden des Landes bevorzugt im Großhandel und bei Weiterverarbeitungsbetrieben entnommen.

Vierzehn Proben stammten aus konventioneller Erzeugung mit Herkunft Indien (6x), Afrika oder Nigeria (4x), ohne Angabe der Herkunft (3x), Türkei (1x). In fünf Proben wurden wegen der Überschreitung des Summenhöchstgehaltes Ethylenoxid beanstandet (36 % der Proben). Vier der fünf Sesamproben stammten aus Indien, in einem Fall war Afrika als Herkunft angegeben. In allen Fällen wurde jedoch nicht Ethylenoxid selbst, sondern ausschließlich das Abbauprodukt 2-Chlorethanol nachgewiesen und bestimmt (Gehalte zwischen 0,13 und 10,5 mg/kg Summe Ethylenoxid). Diese Proben sind aufgrund der Höchstmengenüberschreitung in der EU nicht verkehrsfähig und aufgrund der inzwischen vorliegenden toxikologischen Bewertung des BfR darüber hinaus auch als nicht sicher zu beurteilen.

Acht Proben stammten aus ökologischer Erzeugung mit Herkunft Indien und Uganda, bei zwei Proben war kein Herkunftsland angegeben. In zwei der acht Proben war weder Ethylenoxid noch 2-Chlorethanol nachweisbar. In den restlichen sechs Proben waren Spuren an 2-Chlorethanol unterhalb der Bestimmungsgrenze nachweisbar. Diese geringen Spuren können durchaus durch Kreuzkontamination, zum Beispiel durch Stäube, verursacht sein.

 

Weitere Untersuchungsergebnisse

Die Sesamproben wurden darüber hinaus auch auf über 750 weitere Pestizide untersucht.

Tabelle 1 zeigt eine Übersicht über die Ergebnisse der konventionellen Proben insgesamt (einschließlich Ethylenoxid). In Tabelle 2 sind die auffälligen Proben aus konventionellem Anbau und die Pestizide, die jeweils die Höchstgehalte überschritten, aufgelistet.

 

Tabelle 1: Sesam aus konventionellem Anbau (CVUAS November 2020)
Anzahl Proben
Mit bestimmbaren Rückständen
Stoffe pro Probe
Anzahl Proben > Höchstgehalt
Proben > Höchstgehalt in %
14
12
1,6
7
50

 

Tabelle 2: Sesam aus konventionellem Anbau, auffällige Proben (CVUAS November 2020)
Bezeichnung
der Probe
Herkunft
Pestizid /Metabolit
Gehalt mg/kg
Bewertung
Sesam geschält
Unbekannt
2-Chlorethanol
19,1
> Höchstgehalt
Ethylenoxid, Summe, berechnet
10,5
> Höchstgehalt
Nikotin
0,046
> Höchstgehalt
Sesamsaat geschält
Indien
2-Chlorethanol
14,8
> Höchstgehalt
Ethylenoxid, Summe, berechnet
8,1
> Höchstgehalt
Nikotin
0,023
> Höchstgehalt
Sesamsaat geschält
Indien
Nikotin
0,016
> Höchstgehalt,
nicht gesichert
Sesam Seeds Black Sesamsamen
Indien
2-Chlorethanol
0,23
> Höchstgehalt
Ethylenoxid, Summe, berechnet
0,13
> Höchstgehalt
(Es-)Fenvalerat, Summe
0,051
> Höchstgehalt,
nicht gesichert
Nikotin
0,011
> Höchstgehalt,
nicht gesichert
Sesam aus Indien geschält Premium
Indien
2-Chlorethanol
9,6
> Höchstgehalt
Ethylenoxid, Summe, berechnet
5,3
> Höchstgehalt
Sesam geschält
Unbekannt
Chlorat
5,5
> Höchstgehalt
Sesamsamen ungeschält
Afrika
2-Chlorethanol
12,4
> Höchstgehalt
Ethylenoxid, Summe, berechnet
6,8
> Höchstgehalt

 

Die Beanstandungsquote ist mit 50 % der untersuchten konventionellen Proben sehr hoch. Allerdings betrifft es nur wenige Stoffe. Neben Ethylenoxid sind das Nikotin, Chlorat und in einem Fall (Es-)Fenvalerat, ein synthetisches Pyrethroid. Nikotin kann auch durch Kreuzkontamination in die Erzeugnisse gelangen, zum Beispiel durch Tabak (siehe hierzu auch [10,11]). Bei Chlorat sind die Ursachen für Befunde auch vielfältig, zum Beispiel ist ein Eintrag über Wasser möglich [12,13].

Die Befunde an klassischen Pflanzenschutzmittelrückständen sind insgesamt als gering zu bezeichnen.

Auch die acht Proben aus ökologischer Erzeugung wurden vollumfänglich untersucht. Bei zwei Proben war der Bromidgehalt über dem Grenzwert von 20 mg/kg, allerdings war die Überschreitung nach Berücksichtigung der analytischen Streubreite nicht gesichert. Bromid kann aus der Begasung mit Methylbromid stammen, es ist jedoch auch natürlichen Ursprungs, da es von Pflanzen aus dem Boden aufgenommen wird. Hier sind die Gehalte allerdings in der Regel niedriger. Die Befunde wurden den zuständigen Stellen mitgeteilt, so dass eine Ursachenermittlung durchgeführt werden kann. Weitere Befunde betrafen 1x Chlorat und 1x Phosphonsäure, jeweils unter den Höchstgehalten. Chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittelrückstände waren nicht nachweisbar.

Was bleibt zu tun?

Die EU-Kommission hat rasch und entschlossen reagiert: Sesam aus Indien darf inzwischen nur noch mit entsprechend negativem Analysenzertifikat in die EU importiert werden (s. o.).

Ware, die sich schon im Binnenmarkt befindet und die Höchstgehalte überschreitet, muss aus dem Verkehr genommen werden, ebenso die daraus bereits hergestellten Lebensmittel.

Die Quote der konventionell erzeugten Sesamproben mit Rückstandsgehalten über der Höchstgrenze war in unserem Sonderprogramm mit 50 % sehr hoch. Dies dürfte sich jetzt schnell ändern. Als amtliche Lebensmittelüberwachung sind wir dennoch gefordert. Wir werden unsere Untersuchungen fortführen und ausweiten und auch andere Herkunftsländer sowie weitere Probenarten wie andere Ölsaaten und Gewürze unter die Lupe nehmen. Mit der neuen Analysenmethode ist das jetzt auch möglich.

Quellen

[1] Durchführungsverordnung (EU) 2019/1793

[2] Durchführungsverordnung (EU) 2020/1540

[3] Verordnung (EG) Nr. 149/2008

[4] Verordnung (EU) 2015/868

[5] Government of Canada: Proposed Maximum Residue Limit PMRL2019-29, Ethylene Oxide, aufgerufen am 25.11.2020

[6] Health Canada - MRL Database (Auswahl: Ethylene Oxide & Sesame seeds), aufgerufen am 25.11.2020

[6] Amtliche Sammlung von Untersuchungsverfahren nach § 64 LFGB: ASU L 53.00-1

[7] European Chemical Agency, Einstufung von Stoffen und Gemischen, aufgerufen am 25.11.2020

[8] BfR-Stellungnahme zur Toxizität von Ethylenoxid und 2-Chlorethanol, hier: Funde in Sesamsamen und in hieraus hergestellten Erzeugnissen vom 20.11.2020, Az. 30-0202-01-11345065, (noch) nicht veröffentlicht

[9] Amtliche Sammlung von Untersuchungsverfahren nach § 64 LFGB: ASU L 13.04-5 2013-08 (QuOil), ASU L 00.00-115 2018-10 (QuEChERS)

[10] Nikotin in Lebensmitteln – was hat Rauchen damit zu tun?

[11] Nikotin aus Tabak – ein „natürliches“ Mittel gegen Pflanzenschädlinge?

[12] Herkunft unbekannt: Rückstände von Chlorat in pflanzlichen Lebensmitteln

[13] Chlorat-Rückstände in Karotten: eine Spur führt zur Nacherntebehandlung mit gechlortem Wasser

 

Artikel erstmals erschienen am 10.12.2020

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